Kann ich ein adoptiertes Kind lieben, als wäre es mein eigenes?

Hände halten ein Papier auf dem eine Kinderzeichnung mit einem Haus und drei Personen zu sehen ist
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Jedes Jahr werden tausende Kinder adoptiert. Doch das sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, wie es den Familien geht. Die eigenen Ängste oder Befürchtungen werden dadurch nicht automatisch aufgelöst. Werde ich das Kind lieben können wie mein eigenes? Das ist eine sehr häufige Frage, wenn Menschen sich mit Adoption beschäftigen.

Auf etwas allgemeinerer Ebene geht es hier um die Frage, wie Liebe und Bindung entstehen. Wenn Sie Lust auf ein kleines Experiment haben, dann fragen Sie doch mal einige Ihrer Bekannten und Freunde, wie Liebe und Bindung zu einem Kind entstehen. Die Antwort „durch genetische Verwandtschaft“ wird ziemlich sicher nicht dabei sei. Also wie entsteht Bindung und Liebe? 

Liebe, Nähe und Bindung entstehen durch gemeinsam verbrachte Zeit und Zuwendung. Für Kinder ist das insbesondere in den ersten Lebensjahren wichtig, da sie hier sehr viele Entwicklungsphasen durchlaufen, ihre Gefühle, Bedürfnisse und Unsicherheiten aber noch nicht benennen und darüber sprechen können. Sie kommunizieren stark über ihr Verhalten (zum Beispiel aufgedreht sein, verstärkte Anhänglichkeit, Weinen, Wut) und die elterlichen Reaktionen darauf.

Auch wenn hier Zeit und Zuwendung besonders wichtig sind, soll das nicht bedeuten, dass eine Adoption nur mit kleinen Babys funktioniert. Zeit und Zuwendung sind in jedem Lebensalter wichtig und möglich – für alle Menschen. Im Baby- und Kleinkindalter fällt das vielen Erwachsenen leichter, weil Zeit und Zuwendung viel über Kindespflege und Beaufsichtigung erfolgt, aber auch stärker von den Kindern eingefordert wird („Spiel mit mir“).

Wenn Kinder älter sind, dann interessieren sie sich vielleicht für Dinge, die einen selbst weniger interessieren oder vielleicht sogar fremd sind. Vielleicht haben ältere Kinder auch schon Erfahrungen gemacht, die ihre Bindungsbereitschaft einschränkt, wie beispielsweise wechselnde Pflegefamilien oder Heimerfahrungen. Aber auch hier sind Zeit und Zuwendung der Schlüssel. Man kann nicht nur gemeinsam malen und mit Bauklötzen Türme bauen, sondern auch Computerspiele spielen, Sport machen, Musik hören und von Erlebnissen des Tages erzählen. Wenn sie in dieser gemeinsamen Zeit einfach nur zuhören und beobachten, lernen Sie die Welt des Kindes kennen: was ihm wichtig ist, was ihm Spaß macht, wo es schwierige Situationen gibt. Sie zeigen dem Kind, dass Sie sich für seine Welt interessieren. Natürlich kann das – auch je nach Alter des Kindes – eine ganz andere Welt sein, als Sie sie aus Ihrer eigenen Kindheit kennen. Versuchen Sie hier nicht zu bewerten, ob es „gut“ oder „schlecht“ ist, was das Kind interessiert. In Ihrer eigenen Kindheit war vermutlich vieles anders. Es gab zum Beispiel andere Spielzeuge oder weniger Medien im Kindesleben. Nicht automatisch sind neue Dinge schlechter als früher. Sie sind auch nicht automatisch besser. Es kommt darauf an, wie Sie und das Kind damit umgehen, dass die Welt heute so ist, wie sie ist.

Ein kleines Kind läuft an der Hand eines Elternteils
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Durch gemeinsam verbrachte Zeit und Zuwendung zeigen Sie echtes Interesse am Kind – egal ob es ein leibliches Kind oder ein adoptiertes ist. Durch Zeit und Zuwendung fühlen wir uns miteinander verbunden und ein zwischenmenschliches Beziehungsband entsteht. Das Kind fühlt sich gesehen und geliebt und als Teil Ihres Lebens. Sie erfüllen sich gegenseitig das grundlegende Bedürfnis mit anderen Menschen verbunden zu sein.

Bei einem leiblichen Kind denken wir nicht darüber nach, ob wir das Kind lieben können. Denn neun Monaten Schwangerschaft sind eine ausreichende Zeit, um das zwischenmenschliche Band zu dem Kind wachsen zu lassen: Zum Beispiel durch das Spüren von Bewegungen, Ultraschallbilder oder das Überlegen von Namen. Bereits in dieser Zeit wird eine Beziehung zum Kind aufgebaut.

Eine Adoption hingegen bahnt sich erstmal relativ sachlich an. Es werden Gespräche geführt, Formulare ausgefüllt und gewartet, ob es überhaupt klappt. Wenn Sie dann als beste mögliche Eltern für ein Adoptivkind ausgewählt worden sind, geht es im Vergleich zu einer Schwangerschaft ziemlich schnell. Es ist eine große Veränderung innerhalb einer kurzen Zeit. Dass dies Befürchtungen auslöst, ist völlig natürlich und normal. Doch eine Adoption ist auch eine Geschichte von Liebe, die geschenkt und gesucht wird. Dass soll nicht heißen, dass alles funktionieren wird, wenn nur genügend Zeit und Zuwendung investiert werden. Es gibt auch Fälle, in denen sich das Gefühl von Nähe, Liebe und Verbundenheit nicht richtig einstellen will. Meistens ist es dann der Fall, wenn das Kind ein deutlich anderes Temperament hat als die Adoptiveltern. Dann können Gedanken hochkommen, in denen es doch wieder um die fehlende genetische Verwandtschaft geht und ob hierin die Schwierigkeiten liegen, das Kind anzunehmen.

Fragen Sie sich an dieser Stelle einmal, ob genetische Verwandtschaft automatisch dazu führt, dass ein Kind so angenommen wird, wie es ist. Trotz genetischer Verwandtschaft gibt es viele Familien, in denen beispielsweise ein stark anderes Temperament des Kindes für die Eltern schwierig ist. Auch hier stellen sich viele die Frage, woher das kommen mag. Und nicht immer sind Eltern in solchen Situationen geduldiger, verständnisvoller oder ruhiger, nur weil es sich um das leibliche Kind handelt.

Sowohl für leibliche Eltern als auch für Adoptiveltern gibt es Hilfe und Unterstützung in schwierigen Situationen, zum Beispiel in Familienberatungsstellen. Aber auch die vermittelnden Adoptivstellen bieten oft Begleitung über den Adoptionsprozess hinaus an. Aber auch im Vorfeld der Adoption werden im Rahmen von Vorbereitungsseminaren oft Kontakte zu anderen Adoptiveltern geknüpft. Auch der Austausch mit anderen Adoptiveltern kann in schwierigen Situationen hilfreich sein.

Ich hoffe, ich konnte Sie mit diesem Artikel ermutigen, sich weiter mit dem Weg der Adoption zu beschäftigen. Hier ist nochmal das wichtigste in Kürze:

  • Bindung entsteht durch gemeinsam verbrachte Zeit und Zuwendung und nicht durch genetische Verwandtschaft allein.
  • Die Adoption ist eine Möglichkeit, einen Kinderwunsch und die damit verbundenen Bedürfnisse zu erfüllen.
  • Schwierige Situationen können immer entstehen, sowohl in Adoptionsfamilien als auch in genetisch verwandten Familien. Für beide Konstellationen gibt es Hilfe und Unterstützung.

Weitere Informationen und Einblicke zum Thema Adoption finden Sie hier:

Bundesfamilienministerium „Einblicke Adoption - Erfahrungen und Hintergründe“
Bundesfamilienministerium „Blickwechsel Adoption“

Autorin: Sally Schulze

Sally Schulze ist Diplom-Psychologin, approbierte Psychotherapeutin und zertifizierte BKiD-Kinderwunschberaterin.